Die Festnahme des Telegram-Chefs Pawel Durow in Paris hat eine alte Debatte neu entfacht: Tut der Betreiber der populären Messenger-App genug gegen den Missbrauch seiner Plattform durch Kriminelle? Üblicherweise geht es dabei darum, dass das Unternehmen nur sehr zögerlich Daten an Ermittlungsbehörden herausgibt. Oder darum, dass Telegram strafbare Beiträge zulässt und nicht löscht. Beide Schritte erfordern Arbeitsaufwand und den Willen, mit staatlichen Stellen zu kooperieren, was im Widerspruch zum radikal libertären Gestus von Telegram und dessen Gründer steht.
Doch Telegram setzt auch eine einfache und kostengünstige Maßnahme nicht um, die im globalen Kampf gegen Kindesmissbrauch helfen könnte: Die Plattform arbeitet nicht mit dem National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) zusammen. Die Non-Profit-Organisation ist keine staatliche Organisation, sondern agiert als weltgrößte Koordinierungsstelle im Kampf gegen sogenannte Kinderp*rnografie. Techunternehmen können an die Organisation unkompliziert eine Meldung absetzen, wenn auf ihrer Plattform Bilder oder Videos von sexualisierter Gewalt gegen Kinder geteilt werden.
Telegram hat noch nie eine Meldung an die sogenannte Cyber Tipline von NCMEC geschickt, wie die Organisation dem SPIEGEL bestätigte. Im vergangenen Jahr haben 245 Unternehmen Inhalte an NCMEC gemeldet, allein von Facebook oder Instagram kamen jeweils mehr als zehn Millionen Meldungen.
Wie Telegram Kinderschützer gegen sich aufbringt
Solche Hinweise bieten zwei Vorteile: Zunächst kann so die für Betroffene von Kindesmissbrauch traumatische Weiterverbreitung ihrer Bilder eingedämmt werden. Denn NCMEC versieht die Aufnahmen nach einer Prüfung mit einem digitalen Fingerabdruck und teilt diesen über eine Datenbank wieder mit Techunternehmen. Diese blockieren dann automatisch erneute Uploads.
Zweitens können NCMEC-Meldungen auch zu Tätern führen, wenn die Unternehmen die IP-Adresse ihrer Nutzer mitangeben. Diese reicht NCMEC wiederum an Strafverfolgungsbehörden weiter, die dann die Nutzer identifizieren können. Oft gehen allein beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden auf diesem Wege Dutzende entsprechende Meldungen täglich ein. Teils sind sie Ausgangspunkt von Ermittlungen, mit denen größere Missbrauchskomplexe aufgedeckt werden.
»Telegram spielt in einer eigenen Liga, was das fehlende Interesse an der Verhinderung der sexuellen Ausbeutung von Kindern auf ihrer Plattform angeht«, sagte der führende NCMEC-Mitarbeiter John Shehan im Gespräch mit NBC News. Man habe auch ohne die Kooperation der Plattform insgesamt 570.000 Hinweise auf Kindesmissbrauchsmaterialien auf Telegram erhalten, so Shehan. Auf Anfragen von NCMEC habe Telegram indes nicht reagiert.
Nach Durows Festnahme in Paris teilten die französischen Behörden mit, dass auch der Straftatbestand der Beihilfe zur organisierten Verbreitung von Kindesmissbrauchsmaterial grundsätzlich Teil ihrer Ermittlung sei. Die Behörden werden dabei zeigen müssen, wie signifikant das Ausmaß von Missbrauchsdarstellungen auf Telegram tatsächlich ist, gerade in Relation zu den unzähligen legalen Nachrichten regulärer Nutzerinnen und Nutzer.
Telegram bezeichnet Vorwürfe als »absurd«
Dass Telegram von Pädokriminellen genutzt wird, zeigt jedoch etwa ein Gerichtsurteil gegen einen 24-jährigen US-Amerikaner, der die Plattform nutzte, um in Telegram-Gruppen Kindesmissbrauchsdarstellungen zu verkaufen. Dem SPIEGEL sind acht weitere Fälle bekannt, in denen Telegram-Nutzern vorgeworfen wird, über die Plattform Videos oder Bilder von sexueller Gewalt gegen Kinder verbreitet zu haben.
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Telegram ließ eine Anfrage des SPIEGEL unbeantwortet. In den eigenen Richtlinien verbietet die Plattform ausdrücklich den Upload von Missbrauchsdarstellungen. Nach Durows Festnahme hatte das Unternehmen es als absurd bezeichnet, dass eine App oder ihre Besitzer »verantwortlich für den Missbrauch der Plattform« seien. Auf Anfrage von NBC News sagte ein Firmensprecher, dass das Unternehmen »schädliche Inhalte inklusive Kindesmissbrauchsmaterial aktiv moderiert«. In einem eigenen Telegram-Kanal wird täglich darüber berichtet, wie viele Gruppen und Kanäle nach eigenen Angaben gelöscht werden.
Telegram gibt keine Daten mehr an das BKA
Zumindest in der Vergangenheit hat Telegram teils auch Nutzerdaten von mutmaßlichen Pädokriminellen an deutsche Strafverfolgungsbehörden gegeben. Wie der SPIEGEL im Juni 2022 enthüllte, hatte das Unternehmen in mehreren Fällen Bestandsdaten bei Ermittlungen in den Bereichen Kindesmissbrauch und Terrorismus an das Bundeskriminalamt weitergereicht. Bei Verstößen gegen andere Straftaten sei es für deutsche Ermittler weiterhin schwierig, von Telegram Auskünfte zu erlangen, hieß es damals in Sicherheitskreisen.
Die Kooperation erfolgte, nachdem das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser (SPD) Telegram öffentlich kritisierte und mit einem schärferen Vorgehen gegen den Dienst drohte. Im Februar 2022 kam es daraufhin zu einem Videocall hochrangiger BMI-Beamter mit Telegram-Verantwortlichen, an dem auch Pawel Durow teilnahm.
Es habe nach diesem Auftakt weitere Gespräche mit Telegram gegeben, teilt eine BMI-Sprecherin dem SPIEGEL nun mit. In Bezug auf Lösch-Ersuchen und konkrete Entfernungsanordnungen bestehe »eine Kooperation zwischen Telegram und dem Bundeskriminalamt, die wir begrüßen«. Den Entfernungsanordnungen sei Telegram bislang in allen Fällen nachgekommen; den Lösch-Ersuchen »in Teilen«. In wichtigen anderen Bereichen sehe man »allerdings noch Verbesserungsbedarf«.
Insbesondere lehne Telegram mittlerweile »die Beauskunftung von Bestandsdaten« ab, gebe also keine identifizierenden Daten von verdächtigten Nutzerinnen und Nutzern mehr an das Bundeskriminalamt weiter, so die BMI-Sprecherin. Letztmalig sei dies 2022 geschehen.
Auch das Bundeskriminalamt beklagt die mangelnde Kooperationsbereitschaft. So habe sich Telegram komplett verweigert, in einer Untersuchung von Chatforen zu kooperieren, in denen deutsche Politiker angefeindet wurden, bis hin zu Mordfantasien. Wegen der ausbleibenden Daten hätten die Ermittler lediglich einen Bruchteil der 266 Verdächtigen identifizieren können.
Über das Vorgehen der französischen Behörden sei man vorab nicht informiert gewesen, so die BMI-Sprecherin. Auch Deutschland werde womöglich weiter juristisch gegen den Dienst vorgehen: »Wir prüfen intensiv im Rahmen unserer nationalen rechtlichen Möglichkeiten weitere Schritte gegenüber Telegram.«